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Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Wir lagen am Strand von Barceloneta, um uns herum jonglierende Coladosenverkäufer und schreiende Kokosnussmänner, die Barfuß und mit freiem Oberkörper über den Sand liefen. Wir lagen wie die Sardinen Handtuch an Handtuch mit Touristen aus ganz Europa und einheimischen Familien mit riesigen Sonnenschirmen, die sich viel zu erzählen hatten, und das vor Allem lautstark. Meine finnische Freundin Terhi, die ich in Wochen zuvor in einem Sprachkurs kennengelernt hatte, holte einen Schmöker aus ihrer gestreiften Basttasche. Ich grinste, griff in meinen Beutel und legte mein Buch neben ihrs. “Der Schatten des Windes” von Carlos Ruiz Zafón stand auf meiner Ausgabe, während ihre der englische Titel zierte. Wir kicherten darüber, dass unsere Lesezeichen sogar haargenau dieselbe Seite markierten. So ging es damals vielen Erasmus Studenten in Barcelona. Das Buch des spanischen Autors zog uns alle in seinen Bann, denn Niemand beschrieb die große Zauberin besser als er.

“Es war ein prächtiger Tag mit einem tiefblauen Himmel und einer klaren,
frischen Brise, die nach Herbst und Meer roch.
Mein Lieblingsbarcelona war schon immer das im Oktober gewesen,
wenn seine Seele spazieren geht und man bereits weiser wird wenn man nur
vom Canaletas-Brunnen trinkt, dessen Wasser in diesen Tagen wie
durch ein Wunder nicht einmal nach Chlor schmeckt.”

Ich weiß nicht mehr genau ob es die Gespräche an diesem Tag waren, oder eine überraschende Begegnung mit einem der im Buch beschriebenen Orte, den ich zufällig auf meinem Weg zur Boqueria passierte, oder die Tatsache, dass ich zurück in Deutschland dieses Zitat immer und immer wieder auf Zettelchen schrieb, dass ich beschloss meine Diplomarbeit über genau diesen Roman zu machen.

Genau wie Daniel Sempére, der Hauptfigur in “Der Schatten des Windes”, der 1945 im “Friedhof der vergessenen Bücher” auf ein faszinierendes Buch und auf seinen merkwürdigerweise fast unbekannten Autor stößt, stellte auch ich fast 2 Jahre nach meinem Auslandssemester systematische Nachforschungen an. Schrittweise deckte ich, die einzelnen Schauplätze und gar magischen Handlungsorte des Buches auf. Ich studierte die Webseite des Autors, Foren, Landkarten und versuchte mich selbst an versteckte Gassen, schaurige Kneipen und düstere Hinterhöfe zu erinnern, denen ich das ein oder andere Mal während meiner Zeit dort begegnet war. Ich las das Buch immer und immer wieder, unterstrich, machte Notizen und markierte Seiten mit verschieden farbigen Post-Its. Ich wusste irgendwann auswendig wo sich welcher Dialog befand.

Allersprätestens jetzt sollte ich wohl noch einmal erwähnen, dass ich Grafikdesign studiert habe. Das weitere Vorgehen war also nicht, wie vielleicht vermutet, eine Analyse und Interpretation des Schriftstücks ganz im klassischen Sinne auf 50 Seiten mit Fußnoten, sondern eher im visuellen Sinne. Ich wollte das Barcelona, das so wunderbar von Ruíz Zafón beschrieben ist, versuchen genau so zu zeigen. Zu illustrieren. So ging es ein paar Wochen später mitsamt all meiner Aufzeichnungen, Karten und einer Lochkamera im Gepäck in die katalanische Hauptstadt. Warum die Lochkamera? Sie gab mir die Möglichkeit durch lange Belichtungszeiten dem heute so belebten Barcelona genau die Stille zu verleihen, die das Buch zum Ausdruck bringt und den Betrachter durch die grafische flächige Wirkung der Fotos in eine längst vergangene Zeit zu versetzen. Anstatt eine zu bauen kaufte ich eine Lomo Diana F, die, wenn man die Linse abnimmt, als einfache Lochkamera funktioniert.

 Fotos von Simon Bierwald

Smaracuja Der Schatten des Windes placa reial Barcelona

Bei diesem Besuch habe ich die mir wohl liebste europäische Stadt ganz anders erlebt. Ich wagte mich an Orte, an denen ich in den 6 Monaten meines Auslandssemesters nie gewesen bin, entdeckte Oasen der Ruhe nur wenige Meter von der belebten Ramblas entfernt, saß stundenlang an einem Brunnen und zeichnete spielende Kinder. Ich besuchte ein Antiquariat und kaufte alte Postkarten, Bücher, Briefe, Fotos und Fahrkarten. Ich tauchte so tief in die Welt des Romans ein, dass ich mich mit jedem Schritt fragte hinter welcher der großen schweren Holztüren sich wohl der “Friedhof der vergessenen Bücher” wirklich befinden könnte.

Für zwei Wochen fühlte ich mich wieder eins mit der Stadt, die ich so liebte und war unsichtbarer Beobachter zugleich. Wie ein Schatten im Wind.

barcelona-schatten-des-windes-Friedhof

Ich verließ Barcelona mit 12 belichteten Mittelformatfilmen, tausenden Digitalfotos, unzähligen Skizzen, alten Münzen und Schnipseln im Gepäck, einem Herz voller Wärme und neu entfachter Sehnsucht.

Zurück in der Uni entwickelte ich Bilder, wies sie Buchstellen zu, skribbelte, designete und warf alles wieder über den Haufen. Ich verbrachte Monate damit, eine Art Logbuch zu erstellen, dass sowohl meine Reise dokumentierte, vielmehr aber so, als wäre es von der Hauptfigur selbst, bei seinen Nachforschungen in der Geschichte entstanden. Ich eignete mir eine neue Handschrift an, mischte sie mit meinem Sammelsorium aus Bildern und Zeichnungen, Buchseiten und Stempeln um die Geschichte neu zu erzählen. So lange bis mein Prof und ich zufrieden waren.

Das fertige Buch und einige beispielhafte Seiten daraus sieht so aus:

Smaracuja Der Schatten des Windes Barcelona
Smaracuja Der Schatten des Windes Barcelona
Smaracuja Der Schatten des Windes Barcelona
Smaracuja Der Schatten des Windes Barcelona
Smaracuja Der Schatten des Windes Barcelona
Der Schatten des Windes Smaracuja
Smaracuja-DerSchattendesWindes-seite

Ich hatte mich noch nie so intensiv mit einem Buch beschäftigt, überhaupt lese ich kaum ein Buch mehr als einmal (außer die Harry Potter Serie, aber das gilt nicht), geschweige denn bin ich vorher jemals nach einem Roman gereist. Aber ich suche mir meine Bücher meistens danach aus, in welchen Orten sie spielen und bevorzuge dabei ganz klar Barcelona, Paris und manchmal auch Berlin. Ich träume mich an andere Orte, durchwandere sie von Seite zu Seite und fantasiere, wie sie wohl aussehen mögen.

In diesem Sinne verabschiede ich mich mit einem letzten Zitat aus “Der Schatten des Windes” von Carlos Ruíz-Zafon:

“Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung
meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie
das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne.
Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben,
begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung
einen Palast, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken,
wieviel wir lernen oder vergessen.”


Dieser Artikel wurde im Jahr 2012 auf dem Blog der Frankfurter Buchmesse veröffentlicht. Da der Text inzwischen einem Relaunch zum Opfer gefallen ist, habe ich mich entschieden, ihn in einer überarbeiten Version hier zu veröffentlichen. Wer mehr über den Entstehungsprozess der Diplomarbeit erfahren möchte, kann auf einem Tumblr vorbeischauen, den ich damals währenddessen geführt habe (am besten hinten anfangen).

Darüber hinaus habe ich schon lange die Idee, meine Aufzeichnungen als einen kleinen „Der Schatten des Windes Barcelona Reiseführer“ für ein eBook zusammenzustellen. Da das nicht wenig Arbeit wäre, würde ich gerne von euch wissen, ob ihr überhaupt an so was Interesse hättet? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!

Ein Barcelona Mixtape und mehr Worte zum Buch findet ihr übrigens hier.

29 Comments

  • Yvonne sagt:

    Liebe Nina,

    ich möchte jetzt in ein Flugzeug nach Barcelona steigen, das Buch „Der Schatten des Windes“ lesen und in der Stadt die Orte der Erzählung entdecken – ja, dein Reiseführer wäre dafür toll!

    Mir gefällt daran die Idee eine Stadt einmal auf eine ganz andere Art und Weise zu entdecken. Eine Verbindung aus Literatur, dem Gelesenen, den eigenen Emotionen und Bildern im Kopf und der Realität. Spannend!

    Liebe Grüße
    Yvonne

    • Nina sagt:

      Ich glaube, inzwischen gibt es sogar viele geführte Touren zu dem Buch. Aber es ist wirklich etwas ganz anderes, selbst auf die Suche zu gehen, ich weiß noch, wie ich mich gefreut habe, als ich endlich das Wohnhaus eines der Charaktere gefunden hatte, dass etwas versteckt lag im Labyrinth der Gassen in denen ich vorher immer falsch abgebogen war 😉

  • Durch dieses Projekt wurde ich vor ein paar Jahren auf deinen Blog aufmerksam und ich bin nach wie vor sehr begeistert davon. Es hat mich dazu inspiriert, Lomografie und Bücherorte miteinander zu verbinden, auch wenn das Projekt noch nicht abgeschlossen ist. Vor allem hat es mich dazu inspiriert, meiner Diana noch eine Chance zu geben, nachdem ich sie schon halb in den Wind geworfen hatte. Die Bilder sind wirklich großartig und passen in ihrer verträumt-mysteriösen Art perfekt zur Geschichte, die auch zu meinen Lieblingsgeschichten gehört. Danke dafür. Ich habe den Schatten des Windes damals in England gelesen, am Ende der Welle, aber nicht minder begeistert. Ein SdW-Reiseführer würde mir sehr gefallen, ich freu mich drauf!
    Viele Grüße,
    Conny

    • Nina sagt:

      Wow, Conny, das habe ich gar nicht gewusst! Das ist ja toll! Ich wünschte auch, ich würde wieder mehr mit der Diana fotografieren, denn es ist so eine tolle Kamera. Leider habe ich sie seit meinem Abschluss kaum noch angefasst, weil ich keinen Zugang mehr zu Dia-Scannern hatte und auch die günstige Entwicklung immer schwieriger geworden ist. Ich werde mir deine Bilder auf jeden Fall noch mal genauer ansehen! Danke dir!

  • arne sagt:

    Eine atemberaubende und beeindruckende Arbeit! Ich kenne die Buchvorlage nicht, aber ich ziehe meinen Hut und verneige mich tief vor der Arbeit, die Du in Deine Version gesteckt hast.

    Ich bin wirklich begeistert! Sehr gut gefallen hat mir vor Allem die Idee mit der Lochkamera. Die entstandenen Bilder haben wirklich einen ganz eigenen Charme. Wirklich ein starkes Stück!

    • Nina sagt:

      Ganz lieben Dank, Arne!
      Vielleicht inspiriert es dich ja dazu, das Buch mal zu lesen 🙂

      • arne sagt:

        Wahrscheinlich eher nicht. Das klingt nicht nach einem Buch, an dem ich Spaß hätte, aber wenn es mir mal unterkommt, werde ich da einen Blick reinwerfen.

        Dein Projekt motiviert mich allerdings dazu endlich mal meine ganzen Aufnahmen aus Barcelona in Buchform zu bringen. Ein Projekt, dass ich nun auch schon einige Wochen vor mit her schiebe.

  • Kathrin sagt:

    Hallo Nina,
    ich finde deine Schilderung, wie du dich auf dieses Buch eingelassen hast und die Bilder deiner Diplomarbeit großartig. Ich war bisher nur einige Tage in Barcelona, aber auch in der kurzen Zeit hat mir die Stadt sehr gut gefallen. Das Buch kannte ich bisher noch nicht, werde es mir aber auf jeden fall diese Woche in der Mediothek ausleihen.

  • Leah sagt:

    Ich habe den „Schatten des Windes“ auch schon mehrere Male gelesen und liebe die Geschichte immer noch.
    Ich finde dein Projekt genial. In deinen Bildern gibst du für mich die Atmosphäre des Romans sehr gut wieder. Kombiniert mit der dafür entwickelten Handschrift harmoniert das ganze wunderbar. Kompliment.
    Und wenn dein Reiseführer so gestaltet wäre, würde ich ihn definitiv mitnehmen, wenn ich das nächste Mal nach Barcelona reise.

  • Kathrin sagt:

    BOAH, sehr cool! Ich weiß noch wie ich damals nach dem Buch unbedingt sofort in ein verregnetes, graues Barcelona wollte… und es bis heute will! Seltsamerweise steht das Nachfolgewerk („Spiel des Engels“) bis heute ungelesen in meinem Regal. Sachen gibt’s…

    Viele Grüße
    Kathrin

    • Nina sagt:

      Lustig, Spiel des Engels steht auch seit 2008 noch eingeschweißt in meinem Regal. Ich wollte damals nicht durcheinander kommen mit den Geschichten, wegen des Diploms und schließlich hab ich es nie angefasst, aus Angst es würde irgendwas kaputt machen… 🙂

  • andrea sagt:

    Was für eine geniale Idee! Ich liebe die Bilder (und das Buch) und würde das E-book gerne lesen.

  • andreas sagt:

    liebe nina,
    was für ein unglaubliches schönes buch! wenn`s das zu kaufen gäbe eines tages – mit diesen wunderbaren kleinen dingen, die es reich machen, sozusagen als facsimile – dann würde ich das ja glatt kaufen und neben das original stellen… danke!

  • Lu sagt:

    Hallo liebe Nina,
    habe gerade diesen Beitrag von dir gelesen und bin begeistert, weil ich Barcelona und auch „Der Schatten des Windes“ sehr gern mag. Die Idee, die du hattest und die Umsetzung finde ich total schön und bekomme direkt Lust, das Buch nach Ewigkeiten mal wieder zu lesen. Ich kann mich den anderen nur anschließen: Das als Reiseführer wäre großartig!
    Liebe Grüße
    Lu

  • Claudi sagt:

    Barcelona ist eine sehr schöne Stadt, die ich auch sehr gerne mag. Und ich mag auch deinen Artikel, der ist nicht so, wie die anderen 🙂 Danke dafür und liebe Grüße aus Lana Südtirol.

  • Silvia sagt:

    Hallo Nina!
    Ich bin sehr begeistert von deinem Artikel, den Fotos und den vielen Kleingkeiten.
    Ich konnte, nachdem ich das Buch gelesen hatte (und alle anderen aus der Reihe), gar nicht schnell genug nach Barcelona kommen um mir alles anzuschauen.
    Am beeindruckendsten fand ich den Friedhof auf dem Montjuïc. Diese leicht morbide, aber dennoch friedliche Stimmung werde ich nie vergessen.
    Wir haben Barcelona mit dem Fahrrad erkundet, kann ich nur empfehlen.
    LG
    Silvia

  • Franny sagt:

    Huhu! Ich lese deinen Blogeintrag erst jetzt und bin wirklich begeistert von deiner Diplomarbeit. Ich fände ein Ebook (oder auch gern ein Buch) total super!!

  • Svenja sagt:

    Hallo Nina! Ich lese das Buch gerade zum zweiten Mal. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich es das erste Mal gekauft habe, aber schon allein der Schreibstil hat mich so sehr begeistert, dass ich mir auch gleich noch vier weitere Bücher von dem Autor gekauft hatte. Es ist schon einige Zeit er, dass ich diese Bücher gelesen habe, die ja auch teilweise zueinander gehören. Da ich die Zusammenhänge zwischen den Figuren, die hier und da in den Büchern mal wieder auftauchen damals während des Lesens schon nicht mehr wusste, habe ich mir jetzt vorgenommen, Aufzeichnungen während des Lesens zu machen. So bin ich auch auf deinen Artikel gestoßen. Und auch davon bin ich sehr begeistert. Da ich Mediengestalterin bin, habe ich auch ein stückweit den Drang, das Buch zu visualisieren. Ich fange aber gerade mit einer Art Stammbaum bzw. einer Mindmap der Figuren an. Später will ich diesen durch die Figuren aus „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ erweitern. So kreativ wie du bin ich allerdings leider nicht veranlagt. Das Logbuch sieht wunderschön aus. Und die ganze Zeit und Arbeit die du da rein gesteckt hast. Vielen vielen Dank für den schönen Artikel, der mich jetzt noch mal zusätzlich motiviert und inspiriert hat. Ich werde jetzt noch ein bisschen durch deinen Blog stöbern.

    Liebe Grüße
    Svenja

    • Nina sagt:

      Danke Svenja, für deinen netten Kommentar. Ich habe mich ehrlich gesagt nie an die anderen Bücher rangetraut, weil ich auch Angst hatte Sachen durcheinander zu bringen. Seit einiger Zeit lese ich immer mal wieder in „Marina“ rein und finde es dann doch irgendwie schön. Der Stammbaum würde mich interessieren, wenn du damit fertig bist! LG

  • Ralf sagt:

    Eine schöne Geschichte von Tatendrang und Talent. So etwas entfaltet sich nur, wenn man der Phantasie die Gelegenheit gibt mit der Realität zu verschmelzen.

  • Wow, ich bin beeindruckt! Ein toller Artikel, da bekomme ich glatt Lust das Buch noch einmal zu lesen. Mich hat der Schatten des Windes damals auch sehr fasziniert und habe seitdem alle Bücher von Zafón gelesen. Auf einem Barcelona Trip habe ich, ähnlich wie du, auch einige Orte des Buches aufgesucht. Klasse Idee und wunderschöne Fotos! Daumen hoch 🙂

  • Nathalie Schubert sagt:

    Sehr schöner Beitrag 🙂

  • Oli sagt:

    Hey,
    einfach nur Toll !!!

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